Mittwoch, 28 Juli 2021 11:51

Revolution statt Evolution - Die Grundlagenarbeit für künftige Schritte ist geschafft

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Revolution statt Evolution Revolution statt Evolution

Der "Prozessexpress" rollte durchs Unternehmen: Innerhalb von weniger als zwei Jahren haben sich die Berliner Wasserbetriebe mit Unterstützung des Dienstleisters Tilia ein komplett neues Prozessmanagement geschenkt. Wie hat das so schnell funktioniert?.

 

Die Berliner Wasserbetriebe sind als kommunaler Ver- und Entsorger für Wasser und Abwasser in Berlin sowie Teile Brandenburgs zuständig. Das Unternehmen erwirtschaftet jährlich einen Milliardenumsatz und beschäftigt rund 4.500 Mitarbeiter*innen. Seit der Gründung Anfang der 1990er-Jahre ist bei den Wasserbetrieben viel Gutes passiert, konsequente kontinuierliche Verbesserung ist dabei auch weiterhin das Mittel des Unternehmens, um sämtliche Anforderungen künftig gut zu stemmen.

"Das Unternehmen arbeitete bis zuletzt mit einem organisch gewachsenen Prozessmanagementsystem, welches zuletzt aus über 2.500 Dokumenten bestand - Verfahrensanweisungen, Checklisten, Vereinbarungen usw. Eine selbst für erfahrene Mitarbeiter schwer zu überblickende Menge - geschweige denn für neue Kolleginnen und Kollegen", berichtet Ulrike Franzke, Leiterin des Bereiches Unternehmensentwicklung.

Unter anderem deshalb hatte der Vorstand der Wasserbetriebe das Ziel gesetzt, im Jahr 2020 das Prozessmanagement komplett neu aufzustellen. In der Tat kann ein gelebtes und modernes Prozessmanagement als Grundlage für Leistungssicherheit und -qualität, Effektivität und Effizienz, Integration von neuen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und Know-how-Transfer dienen.

"Ergänzend dazu gab es den Hang zur dezentralen Dokumentenablage. Die Informationen waren oft nicht verknüpft, es gab zahlreiche Dopplungen und auch die Aktualisierung, sowie die Erreichbarkeit für alle Mitarbeiter*innen war ein Problem. Das ist ein Zustand, den wir oft auch in anderen Unternehmen antreffen", sagt Christophe Hug, Geschäftsführer und Mitgründer des Dienstleisters Tilia GmbH.

Die Konsequenzen: gefühlte Überregulierung, Ineffizienz und zunehmender Unmut bei Beschäftigten, die sich mit dem bestehenden System regelmäßig auseinandersetzen mussten.

Die Lösung: Zurück auf Anfang. Prozessmanagement aus Beschäftigtensicht denken. Digital.

Anfang 2019 beschlossen die Wasserbetriebe daher den Relaunch. "Das Managementsystem ist das Rückgrat des Unternehmens", sagt Ulrike Franzke von den Wasserbetrieben. "Egal, ob es um Transparenz, die Darstellung als attraktiver Arbeitgeber, klare Strukturen und Rollen oder Wissensmanagement geht - am Ende steckt immer ein funktionierendes Prozessmanagement dahinter. Und da war bei uns ein Neustart fällig. Im Rahmen einer Ausschreibung konnte uns die Tilia GmbH mit dem besten Konzept überzeugen. Wir sind von Beginn an nahezu kompromisslos vorgegangen - Ziel war nicht eine Evolution, sondern eine Revolution."

Diese Revolution sollte in zwei Phasen stattfinden. In der ersten Phase konzipierten die Partner ein übergeordnetes Prozessmodell. Sie erstellten eine umfassende Prozesslandkarte für Unternehmen der Wasserwirtschaft und erarbeiteten ein "Muster-Prozessmodell", bestehend aus Modellierungssprache, Grundsätzen zur Prozessaufnahme und Softwareauswahl (ARIS). Anschließend entwickelten die Wasserbetriebe und Tilia verschiedene Varianten für ein standardisiertes Vorgehen, um alle Geschäftsprozesse des Unternehmens aufzunehmen.

"Dabei waren die Ausgangsfragen beispielsweise: Wie gehen wir mit bestehenden Prozessen und Dokumenten um? Brauchen wir die? Wie können wir wertvolle Informationen weiterverwenden, in denen wahnsinnig viel Arbeit und Wissen steckt?", so Hendrik Parthen, zuständiger Projektmanager beim Leipziger Dienstleister Tilia GmbH. "Diese Fragen stellten wir für alle Unternehmensteile: die Ausrichtung der Organisation, Personalentwicklung, Kundenmanagement oder die Instandhaltung der Anlagen. Die Teams sollten über den Tellerrand schauen und 'auch mal was probieren'. Und dieses Vorgehen hat sich bewährt, die erste Phase hatten wir nach fünf Monaten erfolgreich abgeschlossen - mit neuer Prozesslandkarte, sofort einsatzbereiter Software und passenden Rahmenbedingungen."

Nachdem das Fundament stand, folgte Phase zwei: Die eigentliche Prozessdokumentation und die Gestaltung eines nachhaltigen Prozessmanagements. Basierend auf dem Vorprojekt ging es den Partnern nun darum, innerhalb eines Jahres 80 Prozent aller Geschäftsprozesse aufzunehmen, das zukünftige Prozessmanagement zu konzipieren und ein begleitendes Changemanagement durchzuführen. Der Kickstart für das Alltagsgeschäft.

Aber warum 80 Prozent und nicht mehr? "Gemäß Pareto-Prinzip sind 80 Prozent einer Aufgabe stets mit kalkulierbarem Aufwand zu schaffen", so Ulrike Franzke. "Und es macht bereits das ganze System in einem überschaubaren Zeitraum nutzbar für die Beschäftigten. Das ist das Wichtigste: Unsere Beschäftigten sollen dadurch so gut wie möglich im täglichen Doing unterstützt werden."

"Enorme Unterstützung des Managements"

Die Berliner Wasserbetriebe und Tilia identifizierten gemeinsam zuerst 500 aktuell ablaufende Geschäftsprozesse und begleiteten anschließend die Aufnahme von 400 Prozessen - mit einem speziell für die Aufgabe zusammengestellten Team, augenzwinkernd "Prozessexpress" genannt. Die Beteiligten mussten zudem klären, wie eine künftige Organisationseinheit (OE) für professionelles Prozessmanagement aussehen soll.

"Schon nach zehn Monaten waren die 80 Prozent nutzbar, und wir haben die Arbeitsergebnisse an das zukünftige Prozessmanagementteam übergeben, das sofort loslegen konnte", bilanziert Christophe Hug. "Die Wasserbetriebe hatten ein derartiges Projekt in den letzten Jahren drei Mal mit mäßigem Erfolg versucht. Dass wir es jetzt gemeinsam so schnell geschafft haben, liegt auch an der enormen Unterstützung des Managements. Das Projekt war direkt an den Vorstand angegliedert, auch die OE-Leitungen haben es als Mehrwert betrachtet und kräftig unterstützt und wurde dort als wichtig und sinnvoll wahrgenommen. Wenn alle derart mitziehen, läuft es auch. Vor allem kann dann das Prozessmanagement zur Basis für die vielbeschworene 'digitale Transformation' werden."

Und diese Transformation ist ein heikles Thema: Eine 2019 durch das Magazin Harvard Business Review durchgeführte Umfrage unter Direktoren, CEOs und leitenden Angestellten ergab beispielsweise, dass das Risiko der digitalen Transformation die Hauptsorge des Managements ist. Im Gegensatz zu den Wasserbetrieben erreichen 70 Prozent aller einschlägigen Initiativen ihre Ziele nicht - schätzungsweise 900 Milliarden Dollar wurden so verschwendet.

"Das liegt vor allem daran, dass die meisten digitalen Technologien ungeahnte Möglichkeiten für Effizienzsteigerungen und Kundennähe bieten", sagt Hendrik Parthen. "Wenn die Menschen jedoch die Inhalte der aktuell ablaufenden Prozesse nicht genau kennen oder diese veraltet sind, wird die Transformation Mängel einfach nur vergrößern. Hätten wir beispielsweise damals den Postversand 1:1 digitalisiert, ohne komplett neu zu denken, wir würden heute vielleicht an jede E-Mail eine digitale Briefmarke anhängen müssen."

Wie digital man bei den Wasserbetrieben bereits jetzt arbeiten kann, musste man natürlich auch in Berlin - spätestens mit Eintritt der Corona-Pandemie - während des Projektes unter Beweis stellen. So wurde ein Großteil der Prozesse in digitalen Workshops mittels Videokonferenz aufgenommen.

"Die Wasserbetriebe haben in den vergangenen Monaten unglaublich viel erreicht - und mithilfe der Tilia sogar noch zusätzliche Ergebnisse aus dem Projekt herausgekitzelt", ist sich Ulrike Franzke sicher: "Wir als Berliner Wasserbetriebe besitzen jetzt diesen essenziellen Blick auf die Prozesse, die richtige Organisationseinheit zur Unterstützung der Transformation - und vor allem die richtige Haltung der Belegschaft! Jetzt gilt es für alle, dranzubleiben und unsere Prozesse zukunftssicher zu gestalten."